< zurückblättern


Illustrationen von Dorothee Schmidt

13



2

Schnell hatten sie alle Anzeichen der Zivilisation hinter sich gelassen, und Larry gab Sad ed Faûl die Zügel frei. In einem ausgetrockneten Flussbett, das sich durch die Landschaft wand, preschten sie wie auf einer Rennstrecke dahin. Drei, vier Kilometer legten sie im Galopp zurück, dann verlangsamte Larry den Lauf des Pferdes zu einem zügigen Trab, der höhere Anforderungen an den Reiter stellte. Obgleich nach Auskunft des Jungen in der Nähe ein Fluss war, der Wasser führte, war das Land sehr karg. In der Ferne sah Larry einige Büffel durch das vertrocknete Präriegras ziehen, letzte Überbleibsel riesiger Herden von Bisons, die noch vor wenigen Jahren diesen Landstrich durchwandert hatten.
Schaumige Flocken flogen aus dem Maul des Pferdes. Larry zügelte den Hengst. Durch einen Rundblick überzeugte er sich, dass es außer den Bisons keine Zeugen gab; dann stieg er vom Pferd, zog die Stiefel aus und indianische Mokassins an, schlang die Zügel um das kunstvoll gearbeitete Sattelhorn - und lief los. Sad ed Faûl schien das Spiel zu kennen und schmetterte wiehernd sein Wohlbefinden heraus. Nach fünf Minuten war Larry schon durchgeschwitzt, aber die körperliche Anstrengung tat ihm gut, und als er den Laufrhythmus gefunden hatte, bewegte er sich mit einer Leichtigkeit und Geschmeidigkeit, als könne er endlos lange so weiterlaufen._Hinter sich_hörte er den Hufschlag_des Pferdes;

   
   
14 BERND JABLONSKI

der Hengst würde erst in schnellen Galopp fallen, wenn Larry das Zeichen gab. Dann galt es, eine Meile im schnellstmöglichen Lauf zurückzulegen. Larry schaute sich um und sah Sad ed Faûl ungefähr hundertfünfzig Meter hinter sich, und das Tier schien den Abstand noch vergrößern zu wollen. Bis jetzt hatte Larry allerdings noch nie ein Rennen gewonnen.
Larry mochte etwa zwölf Kilometer gelaufen sein, als er das Zeichen zum Endspurt gab. Weit abgeschlagen hatte der Hengst als Gangart nun den Schritt gewählt. Kaum war der Schrei verhallt, kam donnernder Hufschlag, regelmäßig wie ein Trommelwirbel immer näher und näher, und sehr bald rannten sie nebeneinander her. Als wolle er Larry veralbern, passte er sich dessen Geschwindigkeit an. Larry wurde schneller, er mobilisierte alle Sprinterkräfte, aber der Hengst flog, als sei er des Spiels nun müde, mühelos an Larry vorbei und trompetete triumphierend. Er entfernte sich schnell und ließ Larry im Staub zurück. Mit einem Pfiff gab Larry das Ende des Rennens und den Sieger bekannt.
Er zog seine Kleidung aus, um sie von der Sonne, die jetzt mit morgendlicher Kraft die Luft auf fünfundzwanzig Grad erwärmte, trocknen zu lassen. Mit bleichem, narbenübersätem Oberkörper saß er auf einem von der Schneeschmelze mitgerissenen Felsblock am Rand des Flussbettes. Einige Wunden waren kaum verheilt, die Schulterwunde schmerzte noch und nässte; Larry nahm das alte Heftpflaster ab und klebte ein neues darauf. Zu seinem Normalgewicht fehlten ihm noch zwanzig Pfund. Jetzt stachen die Rippen einzeln unter der

DAS TAL 15

weißen Haut hervor. Die letzten zwei Wochen hatte er von seiner Substanz gezehrt. Aus der Wasserflasche trank er in gierigen Zügen. Er packte den Proviant aus und aß langsam und bedächtig den kalten Braten und das Brot. Trotz seines Hungers zwang er sich dazu, jeden Bissen gründlich zu kauen.
Am Horizont schimmerte eine imposante Bergkette in grau und blauen Farben, nur vereinzelt wiesen dunkle Stellen auf Vegetation hin. Der ständig wehende Wind trug die Erdkrume davon und ließ nur kahlen Fels zurück. Irgendwo weit dahinter lag Larrys Ziel.
Mit dem Schwanzgefieder wippend kam ein Erdkuckuck nach Nahrung Ausschau haltend auf den reglos Sitzenden zu. Er suchte seine Lieblingsbeute, Eidechsen, die zu dieser Zeit noch in der prallen Sonne lagen, um die Nachtkühle zu vertreiben. Aber der Kuckuck verschmähte auch die Käfer nicht, die zu Dutzenden auf einem Octillo versammelt waren, einer in New Mexiko weit verbreiteten Kakteenart.
Unterdessen hatte die Sonne die Kleidungsstücke getrocknet, und Larry zog sich wieder an. Sad ed Faûl war noch nicht zurück. Vielleicht hatte er eine Wasserstelle gefunden. Ein Greifvogel zog, hoch am Himmel schwebend, seine Kreise, dann verblieb er, mit den Schwingen rüttelnd an einem Punkt des Himmels, bis er plötzlich, ein Geschoss, pfeilgeschwind nach unten flog.
Zorniges Wiehern und wildes Fluchen unterbrachen die natürliche Stille. Alarmiert wollte Larry in Deckung gehen, als auch schon Sad ed Faûl, von zwei Reitern mit Lariats gehalten,

   
   
16 BERND JABLONSKI

hinter der Flusskrümmung auftauchte. Der Hengst wehrte sich mit aller Kraft, aber die Cowboys verstanden ihr Handwerk, und die straff gespannten Rohlederriemen schnürten ihm die Luft ab, so dass seine Abwehr sichtlich schwächer wurde. Larry verfluchte seine Sorglosigkeit, denn seine Waffe, die Winchester, steckte im Scabbard, Colt und Patronengürtel hatte er im Hotel gelassen. Das Flussbett lag zwei bis drei Meter tiefer als die Ebene, die Larry gerade überblickt hatte, deshalb hatten sich die Reiter unbemerkt nähern können. Hinter den Cowboys tauchten drei weitere Reiter auf.
Die zwei, die Sad ed Faûl in die Zange genommen hatten, waren einfache Kuhhirten, für die Arbeit mit dem Vieh angestellt. Sie hatten Chaparreras um die Oberschenkel gebunden, um gegen das Dornengestrüpp, aus dem sie oft die Longhorns heraustreiben mussten, geschützt zu sein. Diese Chaps waren aus Leder und reichten bis über die Stiefel.
Der zweite Trupp war aus anderem Holz geschnitzt. Im Gegensatz zu den Cowboys trugen sie die Colts tief an der Hüfte, einer hatte sogar zwei umgeschnallt. Larry vermutete, dass es dieser Gray war, von dem Jules ihm erzählt hatte. Er nahm es aber nicht als Indiz für die besondere Gefährlichkeit des Revolvermannes, denn heute trug fast niemand mehr zwei Waffen. Üblich war dies nur gewesen, als die Colts noch mit Pulver, Verdämmungspfropfen, Kugel und Zündhütchen geladen werden mussten, und sie häufig versagten. Die zweite diente als Reserve. Seit es Patronenrevolver gab, war eine zweite_Waffe_eigentlich_überflüssig._Nach_Grays_Grinsen_zu

DAS TAL 17

urteilen, musste dieser Mann leicht verrückt sein.
Begütigend sprach Larry auf den erregten Hengst ein, der sich sofort beruhigte. Dann wandte er sich den anderen zu, die drei Pferdelängen vor ihm ihre Tiere zum Stehen gebracht hatten. Wer der Leitbulle war, wurde Larry nicht nur durch dessen knappe Handbewegung klar, auf die hin sich die anderen zwei von den Pferden schwangen; der die Befehle gab, war eine imposante Erscheinung und wäre auch in einer großen Menschenmenge als ein ganz besonderer Mann aufgefallen. Er schob sich den Stetson, der sicherlich das Jahreseinkommen eines Cowboys gekostet hatte, in den roten Nacken zurück. Er wirkte entspannt wie ein Jaguar, der eine erfolgreiche Jagd hinter sich hatte, und genauso gefährlich, jederzeit bereit, die Beute zu verteidigen. Er hatte kupferrotes Haar und ein von der Sonne stark gerötetes Gesicht, das nicht braun werden wollte, sondern sich immer wieder neu schälte. Weiße, große Zähne blitzten auf, als er Larry kühn anlächelte. Er war etwa fünfunddreißig Jahre alt, ein Hüne von Gestalt und bestimmt zwei Zentner schwer. Larry hätte gewettet, nicht ein Gramm überflüssiges Fett war dabei. Groß, stark und unerschütterlich wirkte er, und er schien unter Dampf zu stehen, so, als könne er den nächsten Ausbruch von überschüssiger Energie kaum kontrollieren. Ein unberechenbarer, gefährlicher Mann. Als er vom Pferd stieg, tat er das mit einer geschmeidig fließenden Bewegung, die katzenartig gewandt und zugleich schnörkellos war, als sei ihm jede Verschwendung verhasst. Er bewegte sich _mit_einer _Sicherheit, _die_nur_der_hat, _der _niemanden

   
   
18 BERND JABLONSKI

fürchten muss.
Noch nicht einmal achtzehnjährig war Slaughter in dieses Land gekommen, hatte den Indianern seinen Besitz abgetrotzt, sich unter Gesetzlosen behaupten müssen und sich ein riesiges Rinderreich erkämpft. Das Startkapital hatte er sich verschafft, indem er halbwilden Longhorns sein Brandzeichen, einen zustoßenden Adler, aufgedrückt und als erster Rancher dieses großen Gebietes eine Viehherde durch Indianerland zu den Verladebahnhöfen im Norden getrieben hatte. Seitdem war sein Aufstieg unaufhaltsam gewesen. Es war sein Land, er war der absolute Herrscher, und seine Macht gründete sich auf seine Stärke.
Larry begann sich unter dem abschätzenden Blick unwohl zu fühlen. Er ahnte, was kommen musste, und sein Magen zog sich krampfartig zusammen. In seiner momentanen körperlichen Verfassung war er Slaughter selbst in einer fairen Auseinandersetzung mit den Fäusten, Mann gegen Mann, nicht gewachsen. Angst überkam ihn, immer neue Wellen, vom Epizentrum Magen ausgehend, ließen ihn erzittern. Er spürte den kalten Schweiß auf seiner Stirn. Unauffällig betrachtete er seine Hand, die eine Zigarette hielt, während er sie zum Mund führte, aber da war kein Zittern, kein noch so unmerkliches Beben wahrzunehmen. Seine äußerliche Ruhe gab ihm die innere Sicherheit zurück. Er atmete den Rauch tief ein, ließ die Zigarette dann fallen und trat sie aus. All dies tat er langsam, bedächtig, als wäre die profane Handlung würdig, so feierlich begangen zu werden._Dann, als er sich entschieden hatte, kam

DAS TAL 19

eine tiefe Ruhe über ihn, eine gläserne Glocke hielt die Außenwelt fern von ihm. Er war bereit, alle Schmerzen auszuhalten und sich, so gut es ging, seiner Haut zu wehren. Ohne Blessuren würde es auch für den Großrancher nicht ausgehen. Sein Blick nahm alles auf einmal wahr. Hoch stand die Sonne, das Blau war ungeheuer, die himmelwärts vermutete Ewigkeit nur schwer zu ertragen. Aber ich kann das Unendliche unendlich nennen, und ein Glücksgefühl durchströmte ihn, und eine wilde Sehnsucht nach dem Leben, die frei war von Todesfurcht, packte ihn.
Gelassen begegnete er dem Blick Slaughers, dessen unbeugsamer Wille fast körperlich war. Einen kurzen Moment war Slaughter verunsichert, und er hob überrascht die Augenbrauen, sollte er sich verschätzt haben? Aber was er sah, beeindruckte ihn nicht besonders; ein hochgewachsener Mann, fast genauso groß wie er selber, gleichaltrig ungefähr, mit schmalen Lippen und rauchgrauen, weit auseinanderstehenden Augen in einem von Sonne und Wind gegerbten Gesicht. Der breite Mund wirkte trotz der Schmallippigkeit sensibel, das Kinn war in der Mitte geteilt und die Stirn hoch und klar. Er machte den Eindruck eines mageren, zähen Wolfes, der, wenn es sein musste, kämpfen konnte und ein gefährlicher Gegner war. Die harten Linien in seinem Gesicht sprachen von einem kompromisslosen Leben, das immer den selbst aufgestellten Regeln gefolgt war. Aber solche Männer waren Slaughter schon oft begegnet, es fehlten ihnen immer ein paar Zoll zur wirklichen Größe.

   
   
20 BERND JABLONSKI

Zur Zeit verfügte Larry nicht über die Kraft und die daraus resultierende Energie, die sich seinen Gegnern immer unbewusst mitgeteilt und manchen vorzeitigen Rückzug veranlasst hatte. Dabei war nicht die physische Kraft ausschlaggebend, sondern die Botschaft, die von Larry ausging. Ich werde kämpfen, und ich werde nicht aufgeben; wenn du gewinnen willst, musst du mich töten. Jetzt wirkten Larrys Bewegungen ungelenk, eckig; Slaughter kam zu der beruhigenden Erkenntnis, hier keinen gleichwertigen Gegner vor sich zu haben. Was kann ein einsamer Wolf gegen eine große Raubkatze ausrichten, fragte er sich und blickte Larry wieder mit seinen unheimlich blauen Augen intensiv an. Er kann sich als Leitwolf ein Rudel zusammensuchen, gab er sich zur Antwort, und dann ist er gefährlich.
Bisher war noch kein Wort gesprochen worden. Gray, der mit seinen zwei Colts selbstvergessen herumspielte, brach das Schweigen.
"Soll ich dem verlausten Affen ein paar nette Verzierungen beibringen?" fragte er zu Slaughter gewandt und zielte mit beiden Colts auf Larry. Slaughter schüttelte leicht den Kopf, und enttäuscht versenkte Gray mit artistischer Leichtigkeit seine Colts in die Holster.
"Soviel Aufwand für einen unbewaffneten Mann, Gentlemen?" fragte Larry spöttisch. Slaughter überging den Spott und sagte ernst:
"Ich habe nichts gegen Sie, gegen Sie persönlich, meine ich. Sie haben mich in Zugzwang gebracht." _Fast bedauernd sagte

DAS TAL 21

er dies und fügte hinzu: "Spielen Sie Schach?" und als Larry nickte, "Dann wissen Sie, was ich meine. Sie befinden sich in einer äußerst bedenklichen Position und haben dennoch die Frechheit, mir zu drohen, mir Schach zu bieten. Nun bin ich am Zug. Sie wollen ihren Bruder rächen und für die kleinen Farmer, die in den Hügeln dahinvegetieren, den starken Mann spielen, der mich aus dem Sattel hebt."
Larry war versucht, die Sachlage richtig zu stellen, dass dies nur ein von einem kleinen Jungen provoziertes Missverständnis sei, der seine Wünsche für die Wirklichkeit gehalten habe.
Aber die Frist war abgelaufen, denn kaum hatte Slaughter geendet, der während seiner Rede den Gurt abgeschnallt und den Riemen um seinen Schenkel gelöst hatte, als er den schweren, munitionsbestückten Gürtel mit einer blitzartigen Bewegung aus dem Handgelenk heraus, ansatzlos, von sich schleuderte. Der Patronengurt mit dem Revolver klatschte in Larrys ungeschütztes Gesicht, und die Wucht des Aufpralls ließ die Haut über dem Wangenknochen zerplatzen wie überreifes Obst, das zu Boden fällt. Blut tropfte von seinem Kinn, und Larry taumelte drei Schritte rückwärts. Slaughter setzte sofort nach, um seinen Vorteil auszunutzen und hieb seine Fäuste in Larrys ungeschützte Weichteile, links, rechts, Doubletten, die Larry von einer Seite auf die andere trieben, hielten ihn, der sonst längst zu Boden gegangen wäre, aufrecht. Erbarmungslos schlug Slaughter immer wieder zu. Seiner Sache nun sicher, überließ er Larry seinem Taumel und zog, seine Hände zu schützen, Handschuhe_an._Eigentlich war der Kampf

   
   
22 BERND JABLONSKI

bereits zu Ende, die Exekution sollte beginnen. Larry versuchte, die Benommenheit abzuschütteln. Unsicher stand er auf den Beinen, bemüht um Orientierung. Mit wiegendem Schritt kam Slaughter auf ihn zu, in der Absicht, den angeschlagenen Gegner systematisch zu zertrümmern, ihn zu zerbrechen, und ihn für immer zu einem furchtsamen, ängstlichen Menschen zu machen, der vor jeder körperlichen Gewaltandrohung zitternd kuschen würde. Wankend erwartete Larry den nächsten Schlag. Der weit ausgeholte Schwinger kam mit großer Geschwindigkeit auf Larrys Kopf zu - instinktiv duckte Larry den Schlag aus und stieß Slaughter den Kopf in den Magen. Der sackte zusammen, und in der Fallbewegung bekam er Larrys Knie unter die Nase gerammt. Das knirschende Geräusch von zermalmtem Knorpel schien über Gebühr laut. Blut schoss aus der Nase, und Slaughter stöhnte auf, ging zu Boden und wälzte sich aus der Gefahrenzone. Aber Larry war ihm nicht gefolgt, sondern stand mit hängenden Fäusten und wartete. Blutüberströmt erhob sich Slaughter. Schwer durch den Mund atmend ging er auf Larry zu, gewarnt jetzt und vorsichtig. Einen weiteren Volltreffer würde Larry nicht verkraften, und tänzelnd versuchte er seine Glieder zu lockern und die Beweglichkeit wiederzuerlangen. Aber auch er hatte Slaughter empfindlich treffen können und dadurch etwas Zeit gewonnen. Mit der Linken täuschte Slaughter eine Gerade an, die auf Larrys Kopf zielte, und die pendelnde Oberkörperbewegung, mit der Larry sich aus der Gefahrenzone zu bringen suchte, kam dem rechten

DAS TAL 23

Haken noch entgegen, der ihn schwer seitlich am Hals traf. Er wankte und versuchte, das Gleichgewicht nicht zu verlieren, riss die Augen weit auf, vor denen bereits alles verschwamm, und genau in diesem Augenblick warf Slaughter den mit der linken Hand vom Boden geklaubten Sand in Larrys Gesicht. Unbarmherzig trieb er den Blinden mit wüsten Schwingern nun vor sich her. Halb bewusstlos schon war er nur noch vom Willen nicht umzufallen beseelt. Sein ganzer Schädel war eine blutige Masse, in der die Gesichtszüge nicht mehr zu erkennen waren.
Als Larry wie vom Blitz getroffen in sich zusammenfiel, trat Slaughter noch weiter auf ihn ein, bis ein Murren seiner zwei Cowboys ihn zur Raison brachte. Kalter Hass erfüllte ihn noch, als Larry halbtot und wehrlos vor ihm lag. Dies genügte ihm nicht, er wollte ihm weiterhin Schmerzen zufügen. Wortlos wandte er sich von Larry ab, ging zu seinem Falben, nahm das Gewehr aus dem Scabbard - er repetierte, zielte auf Sad ed Faûl und erschoss das Tier.
Ein wilder Blick traf die Cowboys. Sie schwiegen.

Es war Nacht, als Larry erwachte. Die Sterne am klaren Himmel schienen hell. Er lag gekrümmt auf der Seite, und eine kleine Bewegung löste einen Schmerz aus, der ihm die Besinnung erneut nahm. Beim zweiten Erwachen durchdrang Morgenkühle seine Glieder. Regungslos blieb er liegen, um sich gegen die zu erwartende Tortur zu wappnen. Er bestand nur noch_aus Nerven,_die dem Gehirn_Schmerzen meldeten._Das

   
   
24 BERND JABLONSKI

Gefühl einer großen Klarheit,_das ihn überkam_und das_er mit aller Kraft festzuhalten versuchte, führte ihn weg von der Gegenwart in seine Vergangenheit.
... riesige Kakteen, vierzehn, fünfzehn Meter hoch und über hundertfünfzig Jahre alt, winkelten ihre Arme. Die jugendlicheren waren noch ganz Phallus. Groß zwar und stachelig, aber ohne Ablenkung nach rechts oder links. Die weit verzweigten, alles irgend Feuchte aufsaugenden Wurzelwerke hielten die Kakteen auf Distanz zueinander. Durch die Zwischenräume lenkte Larry sein Pony talwärts nach Norden, wo die weite Ebene von Rinderherden äsend durchschritten wurde. Der vierzehnjährige Junge verharrte am Rande des Kakteenfeldes und beobachtete eine Zeitlang das grasende Vieh. Menschen waren nicht zu sehen, und so wagte er, die Deckung zu verlassen. Er musste vorsichtig sein, sicher würde man ihn verfolgen. Der Mann, den er erschlagen hatte, galt als untadeliger Bürger seiner Gemeinde. Larry wusste es besser. Aber ihm würde niemand glauben, nur der Witwe, die das Ansehen ihres Mannes würde retten wollen. Mister Andrew war ein Sadist gewesen, ein frömmelnder Mensch, der keinen Gottesdienst, aber auch keine Möglichkeit zur Quälerei versäumt hatte. Über ein Jahr war Larry bei ihm gewesen, seit sein Vater erschossen worden war und Andrew sich seiner angenommen hatte. Die Mitglieder der kleinen Gemeinde irgendwo in Missouri waren froh, dass nicht sie für Larrys Unterhalt aufkommen mussten, und sahen geflissentlich über den _geschundenen _Körper,_den_sie _täglich_vor Augen

DAS TAL 25

hatten, hinweg. Jeder wusste von der Qual, die der Junge auszustehen hatte, aber niemand wollte es wirklich wissen. So galt Larry als störrisches, undankbares Kind, das ein paar Klapse sehr wohl vertragen konnte. Die Schmerzen waren überall. Er hätte mich bestimmt umgebracht, diesmal, ich musste ihn erschlagen, sonst hätte er mich getötet, versuchte der Junge, sein Gewissen zu entlasten. Gestern war Andrew schon zur Mittagszeit betrunken gewesen, als er in die Schmiede kam, um Larrys Arbeit zu überwachen. Abwartend stand er da und trommelte mit seinen Fingern, ungeduldig auf einen Vorwand wartend, um Larry guten Gewissens prügeln zu können. Die Wartezeit verbrachte er mit lautem Fluchen. Plötzlich warf er einen Holzscheit nach Larry, der gerade noch ausweichen konnte. Dann nannte er ihn einen ungehorsamen, aufsässigen Bastard, dem einmal die heilige Gottesfurcht eingebläut werden müsse, denn sonst werde seine Seele in der ewigen Verdammnis und Finsternis auf immer umherirren. Und er stand auf, sein Züchtigungsinstrument, eine Bullenpeitsche, vom Haken zu nehmen. Bleich und stumm wartete Larry, gewillt, keinen Laut von sich zu geben. Mit einem "Knie nieder, du Hund" eröffnete Andrew das Ritual. Beim ersten Mal war Larry erschreckt auf die Knie gefallen und hatte damit den scheinheiligen Vorwand geliefert. "Oh, du nichtsnutziger Teufel, nur vor Gott wird gekniet, lass dich nicht in Versuchung führen und nimm dies zur Lehre", hatte er salbungsvoll, halb im Singsang gesprochen und dabei wild auf Larry eingeschlagen, als_gelte_es,_ den_Teufel _auszutreiben._Seitdem _hatte_Larry

   
   
26 BERND JABLONSKI

niemals wieder vor diesem Mann gekniet. Jetzt hieb dieser mit der Peitsche immer wieder zu, nur leises Stöhnen kam über Larrys Lippen, der mit den Armen sein Gesicht schützte. Diesmal wollte Andrew mehr, und wie von Sinnen, Speichelbläschen in den Mundwinkeln, schlug und schlug er. Das erwartete Flehen und Weinen blieb aus, und das brachte Andrew in immer größeren Zorn und heftigere Erregung. Den ersehnten Effekt zu erreichen, griff Andrew nun zu einem schweren Knüppel. Der erste Schlag traf Larrys Oberschenkel, und sein Bein knickte weg, und er stürzte lang hin. Dabei entfuhr ihm ein wilder Schrei. Mit gespreizten Beinen stand Andrew über ihm, das Gesicht verzerrt, und seine Hose beulte sich aus. Mehr stöhnend als fluchend wollte er erneut zuschlagen, und voller Panik sprang Larry auf und vorerst außer Reichweite. Aber hinaus kam er nicht; Andrew hatte die Tür verschlossen. Den Schlüssel steckte er in seine Hosentasche.
"Jetzt mach ich dich fertig, du kleines Schwein", flüsternd, drängte er Larry in die Ecke, aus der es kein Entkommen gab. "Bete, bete: Vater, unser, bete!" schrie er, und hochrot im Gesicht näherte er sich Larry, packte ihn bei der Kehle, mit einer Hand, und wieder schrie er: "Du sollst beten, bete!"
Voller Entsetzen starrte Larry diesen Mann an, er war gelähmt und brachte keinen Ton heraus. Die Luft wurde ihm knapp, so fest drückte Andrew zu, drängte ihn mit seinem Körper gegen die Wand. Larry wollte schreien, um Hilfe rufen, es gelang nicht. _Von _allen _Hemmungen _befreit _ hatte _Andrew _den

DAS TAL 27

Knüppel fallen lassen und nun beide Hände um Larrys Hals gelegt. Keuchend verstärkte er den Druck, und Larry versank in rotem Nebel; fast bewusstlos erwachte mit eruptiver Gewalt die von der Todesfurcht ausgelöste Gegenwehr, sein hartes, spitzes Knie versenkte er mit aller Kraft in den Unterleib des breitbeinig vor ihm stehenden Ziehvaters, dessen Hände sofort losließen und niederfuhren. Larry hatte sich in die andere Ecke geflüchtet, und seine Hand ergriff den auf der Esse liegenden Fäustling, schwang ihn hoch und warf ihn mit voller Wucht dem auf ihn zustürzenden Andrew entgegen. Abrupt wurde dessen Lauf gestoppt. Er griff sich an die Brust, mit einem Seufzer fiel er hin und prallte mit dem Schädel auf den doppelt gehärteten Amboss - er war sofort tot.
So war es gewesen, und der Junge schniefte, kämpfte mit den Tränen. Nicht dass es ihm um Mr. Andrew leid getan oder ihn Reue überkommen hätte; es war gewissermaßen das Ungeheuerliche seiner Tat, das ihn zum Weinen brachte. Es waren auch Tränen der Erleichterung, die ihm übers Gesicht rannen...
Im Fieber phantasierend brachte Larry die Zeiten durcheinander. Beruhigend sprach er auf den Jungen, auf sich selbst, ein. Redete von Notwehr, und dass den Jungen keine Schuld träfe. Beschützend wollte er ihn an die Hand nehmen, ihm versprechen, niemals werde ihm solches noch einmal angetan werden._ Seine Hand durchfuhr den angeschwemmten Sand im Flussbett, drückte einen abgerissenen Ast, und wild schrie_er, diesem_Andrew_sei_recht_geschehen._Sein_eigener

   
   
28 BERND JABLONSKI

Schrei brachte ihn in die Gegenwart zurück.
Es ging ihm miserabel. Durst plagte ihn, der seit vierundzwanzig Stunden hier lag. Überall Brennen, Stechen, Klopfen, Zentren von Schmerzen.
Allein hatte er keine Chance. Vielleicht wenn er Sad ed Faûl dazu bewegen konnte sich hinzulegen, dann musste es ihm möglich sein, in den Sattel zu kommen. Nur ein krächzendes Geräusch, über das er selbst erschrak, kam aus seiner Kehle, als er den Namen des Pferdes rief. Larry versuchte, seinen Oberkörper aufzustemmen und an den Steilhang zu lehnen. Irgend jemand Unsichtbares drehte ein gezacktes Messer in seinem Bein, als er sich kriechend fortzubewegen suchte. Seltsam unnatürlich verdreht folgte das linke Bein dem Zug der Arme. Gebrochen, konstatierte Larry kalt. Bestimmt auch ein paar Rippen. Er hoffte, keine schwerwiegenden inneren Verletzungen davongetragen zu haben. Endlich hatte er es geschafft, sich in den Schatten des überhängenden, ausgespülten Felsens zu bugsieren und eine sitzende Haltung einzunehmen, als er einige Meter links von sich Sad ed Faûl sah, auf der Seite liegend, das Auge gebrochen, die Nüstern zurückgezogen und die großen gelben Zähne bleckend, als sei der Tod nur ein Spaß.
Es war lange her, seit Larry das letzte Mal geweint hatte. Er schämte sich der Tränen nicht, die vom Kinn herab auf die Brust tropften. Sie waren richtige Freunde gewesen, vieles hatten sie zusammen erlebt und durchgestanden. Sie waren Gefährten_gewesen_und_hatten_einander vertraut._Die_Trauer

DAS TAL 29

um seinen Freund und der Zorn auf die, die ihn getötet hatten, zentrierten seinen Willen um ein Ziel. Fast hatte er sich schon aufgegeben, und nun gab sein Hass ihm neue Kräfte. Irgendwie schaffte er es, zu seinem Pferd zu kommen, und er war dankbar, den Wassersack und den Proviant nicht unter dem toten Körper begraben zu finden. Wie zum Abschied tätschelte er Sad ed Faûl zum letzten Mal.
Das Wasserbehältnis war noch zu zwei Dritteln voll, und als er seinen Durst gestillt hatte, zwang er sich, das trockene, harte Brot zu essen. Er musste jedes abgebrochene Stück Brot im Mund mit Speichel zersetzen, denn Beißen war unmöglich. Der Kiefer schien angebrochen, und die meisten Zähne waren nicht mehr fest. Zwei waren überhaupt nicht mehr verankert, und Larry löste sie durch eine kleine Drehung von den Fleischfetzen, an denen sie hingen. Erschöpft von den Anstrengungen legte er sich hin, so gut es ging, wobei die Deckenrolle als Kissen diente. Sofort fiel er in tiefen Schlaf und erwachte nach sechs Stunden frischer, als er vorher gewesen war. Die Sonne stand als glühender Ball am Horizont und verschickte ihre letzten Strahlen, in deren Licht nackthalsige große Aasfresser auf dem Kadaver hüpften, die problemlos zugänglichen Stellen suchend. Einer zog blutiges Hirn aus der tödlichen Schädelwunde und reckte den Kopf in die Höhe, um die Beute im Schlund verschwinden zu lassen. Angeekelt und unbeherrscht griff Larry nach einem Stein und traf den stinkenden Vogel, der gemächlichen Schrittes sich entfernte, denn es lag keine Kraft hinter dem Wurf. Larry spürte

   
   
30 BERND JABLONSKI

die Bewegung_bis in die Fußspitzen und unterdrückte einen Aufschrei. Ihm wurde bewusst, dass er vorerst nicht in der Lage sein würde hier wegzukommen und dass er um zu Kräften zu kommen den Geiern ein Konkurrent sein müsste. Denn Proviant war nicht mehr da. Der Gedanke an das, was er würde tun müssen, verursachte ihm Übelkeit. Aber wenn er überleben wollte, hatte er keine Wahl.
Nun, da er sich bewegte, waren die Geier auf Abstand gegangen und hatten sich in einiger Entfernung versammelt. Dies stimmte ihn zuversichtlich, er also strömte noch nicht den Geruch des Todes aus; und solange er noch einigermaßen bei Kräften war und die Dämmerung noch genügend Licht hatte, schnitt er große Fleischstücke aus dem Pferdeleib.
Erst jetzt kümmerte er sich um seine Verletzungen. An das Verbandszeug kam er nicht heran. Er zerschnitt das Zaumzeug, und mit den ledernen Streifen fertigte er eine Schlinge für seinen Arm. Mit vom Hochwasser angeschwemmten Ästen schiente er das Bein. Bis in die Nacht hinein war er damit beschäftigt. Jede Verrichtung war von Schmerzen begleitet und kostete viel Zeit. Die Anstrengungen verbrauchten alle seine Energien, und sein Schlaf glich der Bewusstlosigkeit.
Zerschlagen und zerschunden machte er sich nach dem Aufwachen auf den Weg zur Stadt, wo er hoffen konnte, Hilfe zu finden. Er verbannte jeden Gedanken, und langsam, kriechend, bewegte er sich fort. Ein langer Alptraum begann.


   
   
   
Impressum & Kontakt Links & Banner Lesungen   Startseite